Tijan Sila

Porträt von Hannah Jäger

Tijan Sila ist Lehrer, Musiker und Autor. Sprache ist das Werkzeug des aus Sarajevo stammenden Pfälzers, der den Bosnienkrieg überlebt hat. Aus der Diaspora hat er einige Romane veröffentlicht, die eine Kindheit im Krieg, die Flucht und das Ankommen in Deutschland behandeln. Denn vorbei ist der Krieg nach einer Flucht noch lange nicht…

Bereits als Kind stand der kleine Tijan auf Kindertheater-Bühnen und trug seine Gedichte vor. Damals wurde er mit einem Lyrik-Förderprogramm in Jugoslawien unterstützt. Schon immer wusste er, dass er Dichter oder Schriftsteller sein will. Fast 25 Jahre später erscheint sein Debütroman „Tierchen Unlimited“, der die Flucht eines bosnischen Jungen aus dem Bürgerkrieg und sein Leben unter deutschen Neonnazis thematisiert. In den darauffolgenden erschienenen Romanen, „Die Fahne der Wünsche“, „Krach“ und sein viel gelobter autobiografischer Roman „Radio Sarajevo“, bleibt der gebürtige Bosnier an den Themen dran. Dazwischen liegt eine Kindheit auf Pause, eine Flucht und sein Neuanfang in Deutschland. Denn Sila war neun Jahre alt, als die Belagerung von Sarajevo startete – und damit das Entreißen jeder Menschlichkeit und der Alltag im Überlebensmodus.

 

Ein Mix an widersprüchlichen Emotionen

Zwei Jahre später flieht seine Familie nach Deutschland. „Aber einen Krieg zu überleben, heißt nicht, dass der Krieg einfach so aufhört“, fasst es der Schriftsteller zusammen. Als Sila in der Pfalz ankommt, leidet er unter einer post-traumatischen Belastungsstörung. Er konnte dem Frieden, der in Deutschland herrscht, sehr lange nicht vertrauen, hatte permanent Angst vor Scharfschützen und konnte deshalb nicht über offene Plätze laufen. Zudem üben seine Eltern einen starken Druck auf ihn aus, dass er es in Deutschland schaffen müsse. Aber Sila beschreibt sein Ankommen als einen komplexen Mix an widersprüchlichen Emotionen: Überforderung, weil er die Sprache nicht spricht und Freundschaften ganz anders funktionieren als in Bosnien, aber auch sehr viel Neugierde und Freude, auf alles was kommt. Die Clique seines Viertels in Sarajevo, die Raja, die gibt es nun nicht mehr. Freundschaften beschränken sich in Deutschland geografisch nicht auf ein Viertel. „Außerdem war ich jetzt Teenager und habe durch den Krieg die Zwischenphase zwischen Kindheit und Jugend verpasst“, reflektiert Sila. Aufgrund dieser hohen Komplexität schreibt er gerade an einem autobiografischen Folgeband von „Radio Sarajevo“, der seine nacherzählt. „Es ist gerade noch eine einzige pastellfarbene Wolke, alles fließt ineinander“, lacht der Autor. Der genau das gerade macht: Seine Jugend sortieren und Interviews mit ehemaligen Wegbegleitern führen.

 

Enthemmte Musik, die Freundschaften schafft

Während seiner Jugend in Mannheim findet er Halt in der Punkrock-Musik und kann dadurch auch die Traumata des Kriegs Stück für Stück zurücklassen. Bereits während des Kriegs war Musik seine Alltagsflucht. Der Sender Radio Sarajevo spielte während der Belagerung immer wieder „Runaway Train“ von der amerikanischen Band Soul Asylum. Die Ballade „Always“ von Bon Jovi wird der Song seiner Ankunft in Deutschland (der ihn später auch beim Schreiben von „Radio Sarajevo“ begleitet). Der jugendliche Sila ist von Punkrock begeistert, weil er so niedrigschwellig und enthemmt ist. „Ohne ein Instrument zu spielen, konnte ich direkt mitmachen und knüpfte darüber auch gute Freundschaften“, erinnert sich Sila, der später in den 90ern mit seiner Band durch Deutschland zog – und auch heute noch in einer Punkrockband spielt.

Er beginnt wieder zu schreiben und merkt, dass er auf Deutsch lieber Prosa als Lyrik schreibt. Das liegt für ihn an der unterschiedlichen Syntax und dem Satzbau der deutschen Sprache. Nach der Schule studiert er Germanistik und Anglistik in Heidelberg. Daran anschließend unterrichtet er als Berufsschullehrer Deutsch und Englisch. Auch heute noch ist Sila Lehrer mit viel Herzblut und vor allem viel Humor. „Ich habe einen schönen und erfüllten Arbeitsalltag und behalte auch Kontakt zu vielen Schülern“, lächelt der passionierte Lehrer, „manchmal kommen ehemalige Schüler mit ihren Kindern zu meinen Lesungen und danach gehen wir noch etwas essen.“

 

Von der Freiheit, in Lücken zu schreiben

Seine Schüler fänden es „ganz cool“, dass er Bücher veröffentlicht. Als er im Sommer dieses Jahres für den Text „Der Tag, als meine Mutter verrückt wurde“, den Ingeborg-Bachmann-Preis erhält, schreiben ihm einige Schüler, dass sie eine Pause bei Bridgerton eingelegt hätten, um die Preisverleihung zu streamen. Das freut ihn dann natürlich.

Wann er denn die Zeit zum Schreiben neben dem Vollzeit-Arbeiten und einer kleinen Tochter finden würde? Sila lacht laut auf. Früher hat er nach der Vollzeit-Arbeit routiniert einige Stunden geschrieben, Freizeit hatte er wenig. Seitdem er Vater geworden ist, ist diese Schreib-Routine passé. „Ich gedeihe im Chaos“, gibt Sila zu, „witzigerweise funktioniert es, sich Schreib-Lücken zu suchen – sei es die Freistunde oder die ICE-Fahrt zur Lesung“.

Interessanterweise hat Sila gemeinsam mit seiner Frau während der Pandemie ein Kinderbuch veröffentlicht. Im Mai 2025 erscheint der zweite Band von Lila Leuchtfeuer, den er dann seiner Tochter sogar vorlesen kann.

Aber Sila ist gerne Teilzeit-Autor: Seine Tätigkeit als Lehrer erlaubt es ihm, die Bücher zu schreiben, die er schreiben will. Das ist ein Stück Freiheit für ihn.

 

Sich der Trauer mit therapeutischem Schreiben stellen

Auch sein autobiografischer Roman „Radio Sarajevo“ schenkte ihm ein Stück Freiheit. „Alle hassen das Klischee, aber meine eigene Geschichte aufzuschreiben, war wie eine Art Therapie für mich“, bekräftigt Sila. Auslöser war der Tod seines Vaters während der Pandemie. Daraufhin schrieb Sila einige Essays für Zeitungen. Eine befreundete Verlegerin meinte, dass er doch eigentlich ein Buch über seine Kindheit im Krieg schreiben wolle – und gab ihm damit den entscheidenden Schubs, den er brauchte. „Zu dem Zeitpunkt war der Krieg ein abgeschlossenes Thema für mich“, meint Sila, „es war ein Narbengewebe.“ Das Buch zu schreiben hat ihm dabei geholfen, wieder etwas zu spüren, sich seiner Trauer zu stellen und auch seinen Frieden mit der Zeit und auch seinen Eltern zu machen.

Während Sila das Buch schreibt, ist er wie im Flow. „Der Krieg hat sich so stark in mein Hirn eingebrannt, dass mir das Schreiben recht leicht fiel“, erklärt Sila. Die einzige Herausforderung sei es manchmal gewesen, zu überlegen, wie gewisse Dinge auf Bosnisch hießen. Denn Sila denkt und schreibt nur noch auf Deutsch.

Als „Radio Sarajevo“ erscheint, ist Sila sehr erleichtert, dass Menschen, die den Bosnienkrieg ebenfalls erlebt haben, sich in dem Buch wiederfinden können. „Das ist wie eine Rückversicherung für mich, dass ich aus dem Krieg nicht etwas gemacht habe, das er gar nicht war“, stellt der Schriftsteller fest. Womit Sila nicht gerechnet hat, ist der schöne Austausch mit Menschen, die Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben und von seinem Buch sehr berührt sind.

 

Zwiespältiger Blick auf Bosnien aus der Diaspora

Neben dem Austausch mit Lesern ist Sila froh über die vielen Bücher, die vor allem seit den 2010er-Jahren aus der Diaspora veröffentlicht wurden und die Komplexität von Krieg, Flucht und Ankommen in der Fremde aufgreifen. Er habe sich vor allem in Dana von Suffrins „Otto“, die beschreibt wie schwierig es ist, eine dysfunktionale Familie zusammenzuhalten, aber auch in Saša Stanišićs autobiografischem „Herkunft“ wiedergefunden.

Wenn er selbst heute auf Bosnien-Herzegowina blickt, hat er zwiespältige Gefühle. Jedes Mal, wenn er in Sarajevo ankommt, erlebt er eine Außerkörpererfahrung, weil er sich so sehr in die Erinnerungen zurückversetzt fühlt. „Gleichzeitig beäugen sich Bosnier, die dageblieben sind und die, die in der Diaspora leben mit freundlichem Argwohn“, erzählt der Autor. In einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Menschen, die in Bosnien geboren sind außerhalb leben, kommen immer wieder seltsame Vorwürfe auf den Tisch. Besonders die politische Entwicklung des Landes bestürzt Sila: „Dass Nationalisten, die damals die Verbrechen im Krieg verantwortet haben, immer noch in Machtpositionen sitzen und die Ängste der Leute ausschlachten, ist sehr deprimierend“. Sila hofft, dass das dreigeteilte Land es irgendwann schafft, das Kriegsbeil zu begraben und alte Vorurteile zu überwinden.

Er selbst hat kein selbstverständliches Heimatgefühl mehr für Bosnien, das hat er viel mehr für die Pfalz, in der er schon durch jedes Dorf mit dem Rennrad gefahren ist. Aber es ist zwiespältig und komplex – wie er nicht müde wird zu betonen und aufzuschreiben.

Tijan Sila lebt und arbeitet als Lehrer und freier Autor in Kaiserslautern. Am 11. Juli hat er in Ladenburg aus seinem autobiografischen Roman „Radio Sarajevo“ gelesen – eine Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Ins Freie“ des Literatursommers Baden-Württemberg.